Neue Haptik

DARF MAN NOCH MICHAEL JACKSON HÖREN?

… Roman Polański auszeichnen oder Richard Wagner aufführen?
Unsere Autoren streiten über die Trennung von Künstler und Werk

Ja: Alles und alle immer gleich stummzuschalten, ist gefährlich und autoritär

In einer Netflix-Show sitzt der US-Rapper Jay-Z bei David Letterman. Und der mittlerweile rauschebärtige Talkaltstar fragt, ob das eigentlich alles wahr ist, was Rapper so reimen. Eine ganz einfache und zugleich megakomplexe Frage, zielt sie doch ins Herz einer kunsttheoretischen Debatte, die viel älter ist als die Hip-Hop-Oldschool. Jay-Z aber muss nicht lange überlegen: „Natürlich nicht.“ 90 Prozent seien selbstverständlich erfunden.

Letterman hätte auch gleich fragen können: Darf man Künstler*in und Werk trennen? Nein, man muss sogar, wäre die Antwort. Jedenfalls nach Jay-Z, Roland Barthes, Michel Foucault und vielen anderen Poststrukturalist*innen. Dass in den Debatten um R. Kelly, Michael Jackson, Roman Polański und wie sie alle heißen, die Schaffenden oft völlig mit ihrem Werk verschmelzen, ist erstaunlich.

Manches ist keine Frage der Kunst, sondern der Justiz

Im 20. Jahrhundert wurden große theoretische Anstrengungen unternommen, Autor und Werk zu trennen. Und zwar mit dem Ziel, den Geniekult zu beenden, der in der Romantik entstand: Die Deutungshoheit über das Werk hat nicht mehr der Autor, sondern der Leser. Der Aufsatz „Der Tod des Autors“ von Roland Barthes gehört nicht ohne Grund zu den heiligen Texten des 20. Jahrhunderts: In ihm steckt ungemeines Empowerment, er lädt zum Selberdenken ein. Ganz anders als der denkfaule Hashtag-Aktivismus, der so manche wichtige kritische Auseinandersetzung gleich mit stummstellt, sobald Anschuldigungen auftauchen.

Seien wir doch bitte nicht so naiv: Auch jemand, der eine Jahrhundertbassline wie die von „Billie Jean“ schreiben kann, ist möglicherweise ein übler Mistkerl, der hinter Gitter gehört. Große Kunst wird auch von schlimmen Menschen gemacht. Michael Jackson war so einer. Und natürlich ist es falsch, dass er ungesühnt davongekommen ist. Übergriffe, Missbrauch und Gewalt gehören bestraft. Sie sind aber eine Frage der Justiz, nicht der Kunst. Ich höre auch nicht mehr gerne Michael Jackson, aber nicht jeder, der ein Verbrechen begangen hat, muss als Künstler*in gleich mundtot gemacht werden. Diesen Stummschalten-Rigorismus halte ich für gefährlich.

Dürfen Künstler nur noch mit einem Schein auf die Bühne?

Seine logische Folge wäre, dass nur das Werk makelloser und straffreier Menschen Kunst sein darf. Der Gedanke ist bedrückend und seltsam autoritär. Wohin würde das führen? Dürfen sich nur bestimmte Menschen kreativ äußern? Bräuchte man ein Berufsverbot für alle, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind? Dann gäbe es keinen Hip-Hop und auch kein Pussy Riot. Dürfte man Kunst, die über moralische Reinheit der Künstler*in legitimiert ist, dann überhaupt noch kritisieren – wo sie doch so gut gemeint ist? Müsste sie nicht letztlich von irgendjemandem als Kunst genehmigt werden? Welche Behörde stellt die Erlaubnis aus? Ist das dann wie in der DDR, wo man die sogenannte „Pappe“ brauchte, einen Berechtigungsschein, um auf Bühnen aufzutreten?

Klar, Richard Wagner war Antisemit. Aber seine Musik ist nicht antisemitisch. Der Dirigent Daniel Barenboim würde allen etwas geigen, die fordern, dass man Wagner stummschaltet. Barenboim dirigiert Wagner, auch in Israel. Das ist mutig, aber nötig, um die Auseinandersetzung mit einem so schwierigen Komponisten nicht abzuwürgen. Sonst hieße stumm allzu oft auch dumm.

Artikel aus dem fluter von Felix Denk und Johann Voigt - 09.03.2020
JV
Johann Voigt
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