Siegfried J. Schmidt gehört der Denkschule der Konstruktivisten an. Die gehen davon aus, dass es nicht „die Wahrheit“ gibt, sondern nur Konstruktionen von Realität, die bestimmte Menschen in einem bestimmten sozialen und kulturellen Kontext erzeugen. Wobei dann auch die Medien eine wichtige Rolle spielen. Diese philosophischen Überlegungen wirken auf den gesunden Menschenverstand erstmal ungewohnt: Das darf doch wohl alles nicht wahr sein.
Geyer: Herr Professor Schmidt, wenn man Ihre Texte so liest, scheinen Sie der Wahrheit gegenüber recht misstrauisch zu sein. Was ist Ihre Sorge?
Schmidt: Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, ist sehr schnell bei der Ideologie. Dann ist es nicht mehr weit bis zum Fundamentalismus und Terrorismus. Die Geschehnisse um den Islamischen Staat (IS) zeigen derzeit sehr deutlich, dass es nichts Tödlicheres gibt als Wahrheitsüberzeugungen, insbesondere religiöse Wahrheitsüberzeugungen. Bei wissenschaftlichen Wahrheitsüberzeugungen hingegen muss man immer mitbedenken, dass mir jemand meine eigenen Wahrheitshypothesen widerlegen und meine Sicherheiten erschüttern könnte. Aber einen religiösen Fundamentalisten, den kann nichts erschüttern. Als Konstruktivist halte ich dagegen: Es gibt „die Wahrheit“ nicht.
G: Können wir denn ohne Wahrheit überhaupt leben?
S: Ich habe das mal so formuliert: Es gibt keine Wahrheit, aber wir brauchen sie. Wir brauchen zumindest den Begriff „wahr“ als ein soziales Regulativ. Die Wahrheit als Begriff reguliert offenbar die Handlungen und auch die Kommunikationen auf eine Weise, dass man sich darauf verlassen kann – auch wenn man nicht in den Kopf des anderen hineinschauen kann. Ich halte es aber für dringend geboten, dass wir von der substantivierenden Diskussionsweise wegkommen, die von „der Wahrheit“ ausgeht, die nur endlich jeder erkennen müsse. Das schlägt schnell in Wahrheitsterrorismus und Terrorismus um.
G: Was ist die Alternative?
S: Wir sollten hinkommen zu einer prozessorientierten Diskussionsweise: zu fragen, was wir machen, wenn wir mit dem Ausdruck „wahr“ umgehen. In welchen Situationen verwenden wir ihn, welche Konsequenzen hat das? In den meisten Lebensbereichen aber herrscht immer noch eine substantivierende Metaphorik vor: „Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit“, heißt es zum Beispiel vor Gericht. Ich betone immer: Die Wahrheit ist nicht etwa das Ziel unseres Handelns. Sondern Wahrheit ist die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt handeln können. Wir müssen immer schon eine unglaubliche Menge von Dingen für wahr halten, um überhaupt miteinander reden zu können, um gemeinsam handeln zu können, um Probleme zu lösen und dergleichen.
weiter